Die einheitliche deutsche Strompreiszone gefährdet die Stabilität

Tagesspiegel, June 2, 2023 (https://www.tagesspiegel.de/)

Die EU-Regulierungsbehörde ACER hat Vorschläge entwickelt, wonach Deutschland in mehrere Strompreiszonen unterteilt werden könnte. Dagegen gibt es Widerstand. Das die physikalischen Netzeigenschaften ignorierende Einheitspreissystem führt aber schon heute zu explodierenden Kosten und gefährdet morgen die Stabilität des Stromsystems, meinen Martin Bichler von der TU München sowie Hans Ulrich Buhl und Martin Weibelzahl vom Forschungsinstitut für Informationsmanagement (FIM) und vom Fraunhofer FIT.

Derzeit wird für ganz Deutschland ein einheitlicher Großhandelspreis an der Strombörse berechnet, sowohl für den windreichen Norden als auch den industriestarken Süden. Nachdem die europäische Regulierungsbehörde ACER im vergangenen Jahr Vorschläge unterbreitet hat, insbesondere Deutschland in mehrere Preiszonen zu unterteilen, fanden diese bei den nördlichen Bundesländern schnell Unterstützung. Die MinisterpräsidentInnen von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und des Saarlands haben Mitte Mai jedoch eine gemeinsame Stellungnahme abgegeben, in der sie sich vehement gegen eine Trennung der deutschen Einheitspreiszone aussprechen. 

Das zentrale Argument der MinisterpräsidentInnen ist, dass eine regionale Preisdifferenzierung ihre Industrie schwäche und damit langfristig der deutschen Wirtschaft Schaden zufüge. Zweifellos ist es für die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrie wichtig, günstigen Strom zu haben. Lokale Preise bedeuten aber nicht zwangsläufig eine Schwächung der Industrie im Süden und Westen, wenn man diese intelligent mit geeigneten kurz- und längerfristigen Maßnahmen einführt. Dagegen führt das Festhalten an der Einheitspreiszone zu immer größeren Ineffizienzen, welche langfristig die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und die Stabilität des Stromnetzes gefährden.

Strompreissetzung im internationalen Vergleich

Ein nationaler Einheitspreis ist international keineswegs der Regelfall. Norwegen besitzt sechs Strompreiszonen, Schweden vier, Dänemark zwei, Italien sogar sieben. Viele Länder außerhalb der EU wie Chile, Mexiko, Neuseeland, Singapur und die USA gehen deutlich weiter. Sie berechnen lokale Preise, womit sich der Strompreis je nach Knoten im Stromnetz unterscheiden kann. Über solche lokalen Preise können Engpässe des Übertragungsnetzes berücksichtigt werden, so dass Unternehmen bei Preissteigerungen temporär genau dort Nachfrage reduzieren, wo es netz- und systemdienlich ist.

Bei Preisrückgängen geschieht das Gegenteil. Wenn das Strom­netz gut ausgebaut ist, sind auch in einem solchen System zu den meisten Zeitpunkten die Preise überall gleich. Liegen allerdings temporäre Netzengpässe vor, dann kommt es zu örtlich und zeitlich begrenzter Preisdifferenzierung, welche das lokale Angebot und die Nachfrage intelligent in Ausgleich bringt. 

Kurzfristig wird die Einführung von mehreren Preiszonen oder lokalen Preisen in Süddeutschland zu höheren Preisen führen. Die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt aber, dass dadurch Anreize für Stromerzeuger entstehen, sich an netzdienlichen Stellen anzusiedeln. In den USA, wo der Um­stieg auf solche lokalen Preise in allen liberalisierten Strommärkten bereits vor Jahren vollzogen wurde, wird diese Entscheidung durchweg positiv bewertet. Preisunterschiede zwischen Knoten sind in diesen Märkten über das Jahr gesehen recht gering. 

In Deutschland würde mittel- bis langfristig ein weiterer Ausbau der Übertragungsnetze zu einer zusätzlichen Angleichung der Strompreise führen. Ein derartiger Ausbau kostet Zeit und Geld. Um die Industrie in der Zwischenzeit nicht zu verlieren, sollten temporäre Standortnachteile ausgeglichen werden. Bereits heute gibt es Ausnahmeregelungen für die energieintensive Industrie im Bereich der Netzentgelte, die für die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Industrie von entscheidender Bedeutung sind. Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen und Transferzahlungen möglich.

Fehlanreize durch den Einheitspreis

Warum ist dieser Aufwand lohnend? In der Vergangenheit konnte das Stromangebot durch große Kraftwerke einfach an die schwankende Nachfrage angepasst werden. Mit dem zunehmenden Ausbau der erneuerbaren Energien gehen immer stärkere wetterbedingte Schwankungen des Angebots einher. Angebot und Nachfrage müssen im Stromnetz zu jedem Zeitpunkt ausgeglichen sein. Daher ist es jetzt wichtig, Flexibilität in der Nachfrage zu nutzen. Potenziale für derartige zeitliche Anpassungen sind insbesondere in der energieintensiven Industrie in hohem Maße vorhanden. Kann man dieses Potential der industriellen Nachfrage­flexibilität zukünftig lokal nutzbar machen, kann man deutlich besser auf die Volatilität von Wind und Sonne reagieren und das Stromsystem damit auch leichter stabilisieren. 

Das Einheitspreissystem berücksichtigt die Netzknappheiten nicht. Deshalb wird Strom gehandelt, der vom Erzeuger zum Verbraucher physikalisch gar nicht geliefert werden kann. Das bedeutet, dass Windkraftanlagen im Norden oft abgeregelt und dann vom Übertragungsnetzbetreiber kompensiert werden müssen, was offensichtlich ineffizient ist. Mit einem Einheitspreis gibt es darüber hinaus keine Notwendigkeit für die Nachfrager, verfügbare Flexibilität lokal bereitzustellen. Die Übertragungsnetzbetreiber müssen daher immer öfter einspringen, um das Stromnetz stabil zu halten. Die Kosten für diese Netzausgleichsmaßnahmen sind auf mittlerweile jährlich mehrere Mil­liarden Euro explodiert und drohen auch in Zukunft weiter zu steigen. Sie werden schließ­lich auf die Strompreise der Endkunden verteilt und machen einen wachsenden Teil der Endpreise aus. 

Knotenpreise als bessere Alternative zu Zonen

In der Analyse der EU-Energieregulierungsbehörde ACER werden für Deutschland mehrere Alternativen mit bis zu fünf Preiszonenvorgeschlagen. Dadurch sollen die oben beschriebenen Fehlentwicklungen adressiert werden. Ein noch stärker lokales System mit Preisen auf Knotenebene wird in dieser Überarbeitung nicht diskutiert. Dies ist schade, denn der richtige Zuschnitt von Preiszonen hängt stark vom jeweiligen Stromangebot und der -nach­frage in den einzelnen Regionen ab und diese ändern sich mit dem schnellen Ausbau erneuerbarer Energien sowie der rasch voranschreitenden Elektrifizierung in den nächsten Jahren erheblich. Eine optimale Konfiguration von Preiszonen kann deshalb in wenigen Jahren schon wieder überholt sein. Und genau die damit verbundene Unsicherheit führt dazu, dass aufgrund mangelnder Planbarkeit wichtige Investitionen unterbleiben.

Ob nur ein neuer Strompreiszonenzuschnitt oder gleich Knotenpreise: Das Festhalten am Einheitspreis gefährdet schon mittelfristig die Stabilität unseres Stromsystems und führt zu den beschriebenen Ineffizienzen und Fehlanreizen. Damit leistet man einen Bärendienst für die Wirtschaft und sorgt für einen weiteren Reformstau auf unserem Weg zu 100 Prozent Erneuerbare Energien.

Für die langfristige Planbarkeit der Unternehmen wäre es am besten, wenn Deutschland mit seinem Strommarkt in Europa gleich zum Vorbild für den Weg in die Zukunft würde. Jetzt auf lokal differenzierte Preise zu setzen, kann Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze bei intelligenter Einführung am besten erhalten.

 

Die Professoren Martin BichlerHans Ulrich Buhl und Martin Weibelzahl arbeiten im Bereich Markt- und Stromsystem sowie Flexibilitätsvermarktung seit vielen Jahren im Kopernikus-Großprojekt SynErgie zusammen. Dieses Projekt wird seit 2016 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autoren wieder.